Baltic Skate Explorer

Baltic Skate Explorer – Schwarzes Eis und grobe Katzenköpfe

Auf Inlinern durch die baltischen Metropolen und estnische Weiten

Black Ice, schwarzes Eis, durchzieht das sanft gewellte Hügelland im einsamen Süden Estlands. Schmale, glattgeteerte Landstraßen schlängeln sich bergauf und bergab durch die scheinbar endlosen Wälder.

Menschen beim Rollschuh fahren
Baltic Skate Explorer – auf Inlinern durch baltische Metropolen und estnische Weiten

Hinter jeder dritten oder vierten Kuppe schmiegt sich ein schwarzgrüner See in eines der vielen Täler. „Das war der anspruchsvollste Teil unserer Strecke“, wird Tourleiter Helge am Abend die Mühen der zehn deutschen Inlineskater bilanzieren, die einen Nachmittag lang auf Rollen die Umgebung des Wintersportstädtchens Otepää erkundet haben. Mit 3500 Einwohnern zählt das weit in die Landschaft verstreute Nest zu den größeren Städten Estlands.

Die steilen, langen Abfahrten machen einigen Skatern zu schaffen. Manche hängen sich bergab lieber bei einem der mitreisenden Fahrradfahrer an. „56 Stundenkilometer, mein bisheriger Rekord“, verkündet Peter nach einer langen Schussfahrt mit einem Blick auf den digitalen Tachometer an seinem blau-weiß glänzenden Schuh.

Die beiden Störche, die von ihrem Nest hoch über der Straße auf die bunte Gruppe deutscher Inlineskater blicken, scheint das nicht zu interessieren. Während sie die milde Nachmittagssonne genießen, quälen sich die Rollschuhfreaks den nächsten Hügel hinauf. Die nächste Abfahrt endet an einem Badesee: Sandstrand, eine große Liegewiese und warmes, weiches Wasser. Helge holt für alle Eis.

Vor zwei Tagen war die Baltic-Skate-Explorer-Tour des kleinen norddeutschen Reiseveranstalters KeyMove in der estnischen Hauptstadt Tallinn gestartet. Nach einer kurzen Einweisung führte Tourleiter Helge seine rollenden Gäste über die fast drei Kilometer lange, glatte Strandpromenade auf olympischen Spuren ins Seebad Pirita.

Hinter dem weiten, hellen Sandstrand breitet sich jenseits der glitzernden Ostseebucht die Skyline von Tallinn aus: Neue, gläserne Hochhäuser umrahmen die Silhouette der mittelalterlichen Altstadt mit ihren Türmen und Türmchen.

Von den sowjetischen Olympiastätten in Pirita bröckelt der Beton. 1980 kämpften hier die Segler um Medaillen. Hinfahren oder nicht war schon damals die Frage. Westliche Länder boykottierten die Spiele, nachdem die Rote Armee wenige Monate zuvor in Afghanistan einmarschiert war.

Die Tour geht über meist angenehm glatte Wege durch Plattenbauvororte aus Sowjetzeiten zur Sängerwiese – eine Freilichtbühne, auf der sich im Sommer Chöre aus der ganzen Welt zum Sängerwettstreit versammeln.

Die Esten, sagt man, reden wenig und singen gerne. Dazu passt der Witz vom Tramper auf dem Weg nach Tallinn. Als endlich ein Auto anhält, fragt der junge Mann: „Noch weit nach Tallinn?“ – „Nein“ lautet die estnisch knappe Antwort des Fahrers. Nach einigen stillen Stunden im Auto fragt schließlich der Tramper: „Jetzt noch weit?“ – „Ja, jetzt weit nach Tallinn.“

In der Stille der Tallinner Vororte dämmern die vielen modernen Würfelneubauten im Stile schwedischer oder finnischer Designerprospekte: silbrig-graue Lamellen- und Naturholzfassaden in bewaldeten Gärten. Die Inliner rollen zügig über die frisch geteerten Siedlungsstraßen.

Spuren Russlands und der Sowjetunion sind selten geworden in der Stadt, die Jahrhunderte lang zum Zaren- und dann zum Sowjetimperium gehörte. Am Rande des Stadtparks mit seinem prunkvoll-barocken Zaren-Sommerschloss stehen noch einige Holzhäuser aus russischer Zeit. In der Innenstadt findet sich eine große russisch-orthodoxe Kathedrale.

Im Zentrum kämpfen sich die Skater – oft mit den Händen an den Häuserwänden – über holprige Gehwege im Schatten der mächtigen grauen Stadtmauer durch den Feierabendverkehr. Jenseits der Mauer haben sie keine Chance. Die Gassen der Altstadt sind mit uralten, katzenkopfgroßen Pflasterbrocken belegt.

So bleiben die Inliner abends im Hotel. Wer nach den Touren nicht zu müde ist, bummelt zu Fuß durchs Mittelalter. An einem der Plätze zwischen historischen Gilde- und Handelshäusern informieren junge Leute im Auftrag der Stadt die vielen Touristen. „Young traveller information“ steht über dem mobilen Infostand. In einer Mischung aus gebrochenem Deutsch und Englisch radebricht eine estnischblonde Studentin über das Nachtleben in ihrer Hauptstadt: „Clubs und Bars, Hip-Hop House und Rap, wie in Deutschland, nur nicht so groß.“ Ach so.

In der Altstadt finden sich vor allem die Touristenfallen: Pseudomittelalterliches wie in der „Olde Hansa, Anno 1400 A.D.“, die in fast jedem Reiseführer steht, und teure Restaurants in schick restaurierten alten Gemäuern. Eher skurril mutet der Chinese mit seinen feuerroten Lampions unter dem hölzernen Wehrgang der Stadtmauer an. Am nächsten Morgen geht’s per Bus nach Süden.

Auf dem Markt in Valga, der kleinen, zwischen Estland und Lettland geteilten Grenzstadt, verkaufen alte Leute die Früchte ihrer Gärten direkt aus dem Autokofferraum. Nur ein blaues Schild mit der Aufschrift „Latvija“ im europäischen Sternenkreis lässt die Reisenden wissen, dass sie sich nun in Lettland befinden.

Gut 100 Bus-Kilometer sind es noch in die Hauptstadt Riga, wo die Stadtführerin unter dem Wahrzeichen der Stadt, der Laima-Uhr vor dem Freiheitsdenkmal wartet. Vor der riesigen Statue mit der Aufschrift „für Freiheit und Vaterland“ paradieren zwei lettische Soldaten im Stechschritt.

In perfektem Deutsch erzählt die Stadtführerin vom Bremer Bischof Albert, der die Stadt gründete, um den Balten das Christentum beizubringen. Mit ihm begann die Herrschaft deutscher Rittergutsbesitzer über die Bauernvölker in Livland, Kurland und den anderen baltischen Provinzen. Viele deutsche Inschriften an spätmittelalterlichen Fassaden erinnern an die deutsche Kolonialzeit.

Das Okkupationsmuseum am Dom, ein schwarzer, grober Klotz aus sowjetischer Zeit, klagt diejenigen an, die in Lettland und Litauen im Zweifel an allem Schuld sind: die Russen, genauer: die Sowjets. 1939 teilten Hitler und Stalin Osteuropa unter sich auf. Die drei baltischen Länder wurden so zu Sowjetrepubliken. Wem das nicht passte, bekam einen Freifahrtschein für den Viehwaggon nach Sibirien – ohne Rückfahrkarte.

Tausende Letten, Litauer und Esten ließen Stalin und einige seiner Nachfolger in Arbeitslager verschleppen. Die meisten Gefangenen verhungerten, erfroren oder verschwanden auf andere Weise für immer.

So begrüßten viele Balten die Deutschen, die 1941 einmarschierten, als Befreier. Tausende meldeten sich freiwillig zur Wehrmacht oder zur SS, um gegen die verhassten „Bolschewisten“ zu kämpfen. Viele halfen den Nazis, fast alle Juden in Lettland und Litauen zu ermorden. 1945 kam die Rote Armee zurück. Alle drei baltischen Länder waren nun wieder unfreiwillige Sowjetrepubliken.

Auf den Straßen Rigas hört man mindestens so viel Russisch wie Lettisch. Rund ein Drittel der Letten haben russische Vorfahren. Stalin ließ viele von ihnen hier ansiedeln, um den Widerstand gegen sein Regime zu untergraben.

Offiziell sind „die Russen“ gleichberechtigt. „Wir machen Business und die Letten sitzen in den Amtsstuben“, bringt eine schon etwas angetrunkene junge Russin die Verhältnisse in fließendem Englisch übertrieben auf den Punkt. Zusammen mit einer Freundin genießt sie den Ausblick aus der Skylinebar im 26. Stock des Reval Hotels Latvia, ein zum Luxushotel aufpoliertes, silbern glänzendes Sowjethochhaus in bester Innenstadtlage.

Unten in der Stadt findet sich am nächsten Morgen der Beweis. Auf dem Markt in und vor den Zeppelinhangars aus den 20er Jahren hört man vor allem Russisch. Zwischen Ramschklamotten und chinesischem Plastikspielzeug gibt es Wolgamelonen – jede von ihnen fast doppelt so groß wie ein Fußball – und andere russische Spezialitäten.

Noch ein paar Schritte weiter östlich, hinter dem Bahnhof, hat jemand anscheinend die Zeit kurz nach dem Krieg angehalten. Von den russischen Holzhäusern aus der Zarenzeit blättert der Lack. Ein altes Mütterchen und ein Betrunkener halten vor der gut besuchten orthodoxen Kirche die Hand auf. Auf die Szenerie aus einem Klischeefilm wirft ein Hochhaus seinen Schatten: ein mächtiger Turm im stalinistischen „Zuckerbäcker“-Stil, in dem heute ein Teil der Rigaer Hochschule arbeitet.

See im Baltikum
Baltic Skate Explorer – auf Inlinern durch baltische Metropolen und estnische Weiten

Mitten in der makellos restaurierten Altstadt zeigt die Stadtführerin alte Klosterhöfe, pastellgelbe ehemalige Kasernen der Schweden und den mächtigen Dom aus deutscher Zeit, zu dessen Füssen die Daugava gemächlich und fast kilometerbreit zur Ostsee fließt.

Von See her weht ein kühler, leicht salziger Wind über die vierspurige Drahtseilbrücke. Die Skater machen sich über den abgetrennten Fuß- und Radweg auf den Weg ans südliche Flussufer ins Seebad Jurmala. Über bröckelige und holprige Vorstadtgassen geht es, vorbei an grauen, sowjetischen Industrieruinen und Datschen, der Ostsee entgegen.

Nach einigen anstrengenden Kilometern beginnt der glatt geteerte Radweg. Gleichmäßig zischen die Plastikräder unter den Schuhen im Waldschatten über den Asphalt nach Jurmala. Dort flanieren Scharen von russischen Sommerfrischlern über die breite Fußgängermeile zwischen den meist nagelneuen oder frisch renovierten Restaurants, Cafés und Andenkenläden.

Der feine Sandstrand jenseits der Dünen reicht bis zum Horizont. In der Weite verlieren sich die Urlauber hinter ihren aufgespannten Windschutztüchern. Manche nutzen den vom Wasser festgespülten Streifen am breiten Strand für eine Fahrradtour. Kitesurfer rasen an ihren bunten Drachen hängend über die weißen Schaumkronen der aufgewühlten blaugrauen See.

In der Hauptstadt lockt der große Stadtpark zu einer Abendtour. Nach der Einkehr am Schaschlikstand, wo man sich das rohe Gemüse und die armlangen, gebratenen Fleischspieße an der Theke holt, sausen die Skater strahlend wie glückliche Kinder über die frisch geteerten Wege des Parks.

Michael, der schnellste Skater der Gruppe, kann gar nicht genug bekommen vom „Black Ice“, den glatten Wegen durch den Park. Er fährt noch eine Ehrenrunde, während sich die anderen auf den Heimweg durch die Rigaer Vorstädte zum Hotel machen.

Info:
Die Reise wurde durchgeführt von:
KeyMove Travel GmbH.
Die Firma existiert nicht mehr.
Ähnliche Reisen mit dem Fahrrad werden angeboten von:
Bike Team Radreisen.

Text und Fotos: Robert B. Fishman

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Ich bin absoluter Skandinavien-Fan und reise schon seit über 12 Jahren in die schönen Länder Skandinaviens. Hier teile ich meine Erfahrungen und Tipps zu den skandinavischen Ländern und der Ostsee-Region.

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